Wir müssen Duchamps Urinal zurück in die Toilette bringen – wo es wieder von Nutzen sein kann. (Tania Bruguera)
Nach hunderten Jahren des Kampfes für die Autonomie der Kunst, nach Jahrzehnten des Lernens, dass die wesentliche Qualität von Kunst ihre Ambiguität ist, nach Jahren des Wiederholens, dass Kunst Fragen stellt und nicht Antworten gibt, gibt es plötzlich diesen hartnäckigen Ruf nach einer Kunst, die nützlich ist, nach direktem Engagement, nach künstlerischem Aktivismus, nach Einmischung in die politische Realität unserer Gesellschaften und Ökonomien. KünstlerInnen vermitteln Botschaften, zeigen Zustände auf und stoßen gesellschaftsrelevante Debatten an. Ihre kritische Kunst lehnt sich beispielsweise gegen die Visionen einer von neoliberalen und kapitalistischen Einstellungen getriebenen Elite, die in vielen Teilsystemen der Gesellschaft ihre Machtpositionen für eigene Zwecke missbrauchen. Schon Horkheimer und Adorno sahen die Kunst als Ganzes als einen stabilisierenden Faktor im sozialen Leben. Kunstwerke, die sowohl künstlerisch als auch sozial sind, reproduzierten indirekt oder sogar unbewusst die Konflikte, Blockierungen und revolutionären Aspekte des […] Alltagslebens. Horkheimer und Adorno sahen die Praxis der Kunst-Autonomie daher auch aus zwei Richtungen bedroht. Zunächst von den zunehmenden Eingriffen der kapitalistischen Rationalität in die Sphäre der Kultur – Prozesse, die sie später mit dem berühmten Namen “Kulturindustrie” belegten. Zum zweiten durch die politische Instrumentalisierung […] etablierter Mächte, die sich als antikapitalistisch verstanden.
Kunst hat eine herausragende Bedeutung in unserer Gesellschaft. Sie ist das System der Gesellschaft, das analysiert, kritisiert und durch die ausgelösten Debatten auch korrigierend eingreift. Ein System der Selbstdiagnose sozusagen – der “Neo” in der Matrix einer Gesellschaft. Sie spiegelt gesellschaftliche Debatten wider, sie bietet Reibungsflächen zur Auseinander- setzung mit der Wirklichkeit, sie weist über das alltägliche Geschehen hinaus.
Kunst ist Ausdruck des menschlichen Daseins. In einer Gesellschaft bringt Kunst (öffentlichkeitswirksam) Meinungen und Visionen zum Ausdruck, die sonst hinter vorgehaltener Hand geflüstert werden. Als eine der elementarsten Funktionen hinterfragt Kunst unser Gesellschaftssystem und deren Implikationen auf uns Menschen.
Primäre Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft ist es daher, Kunst nicht nur zuzulassen, sondern auch aktiv – wo immer möglich – zu unterstützen. Der offene und freie Dialog in der Kunst (bzw. über Kunst) ist für eine moderne Demokratie unerlässlich. Wir alle sind Teil(e) dieser Gesellschaft und profitieren von diesem Dialog in der einen oder anderen Weise. In diktatorischen und autokratischen Gesellschaftssystemen hat es die “Freiheit” der Kunst signifikant schwerer, nichtsdestotrotz ist sie auch dort anzutreffen. Und wenn nicht offline, dann durch die Digitalisierung verstärkt online!
Die Kunst und Kunstrezeption hat sich im 20. (und im 21.) Jahrhundert tiefgreifend verändert, dies ist unter anderem den grundlegenden Veränderungen technischer Reproduzierbarkeit, medialer Multiplikation, globaler Distribution und (in den letzten Jahrzehnten) der Digitalisierung geschuldet. (Becker 2016, 4) Wenngleich die technische Seite dieser Entwicklung weit fortgeschritten scheint […]. so ist doch der kulturelle und gesellschaftliche Teil dieser Revolution gerade erst in Gang gekommen […] (Naveau 2020, 7). Betrachtet man die nun schon viele Jahrzehnte lange Geschichte der Medienkunst, also der künstlerischen Arbeit mit und über technologische Prozesse und Komponenten, dann wird ganz schnell klar, dass es vor allem die KünstlerInnen waren, die sehr früh Potenzial und Bedeutung dieser sozialen Dimension der digitalen Revolution erkannten. (ebd., 8) Dass ein Kunstprojekt auf Partizipation von verschiedenen Personen aufbauen kann, ist nicht erst eine Erfindung des Internets. Aber es ist das Internet und im Besonderen das Social Web, das einer noch nie dagewesenen Anzahl von Menschen die Partizipation an künstlerischen (und gesellschaftlichen) Prozessen ermöglicht. (vgl. ebd, 11)
In der noch immer offenen Frage, ob die gesellschaftliche Organisationsform des digitalen Netzzeitalters eher der Dystopie eines totalitären Kontrollsystems oder eher der Vision von Open Commons folgen wird, kommt der künstlerischen Arbeit einmal mehr eine im eigentlichen Sinn avantgardistische Aufgabe zu (Naveau 2020, 8).